Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sind äusserst eng und gründen auf einem Vertragsnetz, das aus rund 20 zentralen bilateralen Abkommen sowie über 100 weiteren Abkommen besteht.
1992 kam es zu wichtigen Entscheiden in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU: eine Mehrheit der Stimmberechtigten und der Stände in der Schweiz lehnte den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR ab. Nach dem Nein zum EWR fehlte die Grundlage für die Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen. Der Schweizer Bundesrat entschied, die Beziehungen zur EU auf bilateralem Weg zu regeln. Die EU stimmte diesem Unterfangen schliesslich nach Zustandekommen des EWR ohne Schweizer Beteiligung zu. Dabei betonte sie, dass die von der Schweiz verlangten Abkommen nur dann abgeschlossen werden, wenn die Schweiz im Gegenzug auch die Personenfreizügigkeit akzeptiere. Das bilaterale Vertragswerk wurde über die Jahrzehnte kontinuierlich entwickelt und vertieft. Insgesamt schlossen die Schweiz und die EU in mehreren Etappen rund 20 Hauptabkommen und etwa 100 weitere Verträge ab.
Die meisten bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU sind klassische Zusammenarbeitsverträge. Die Vertragsparteien bleiben im Grundsatz eigenständig und sind selber für Umsetzung und Anwendung der Abkommen auf ihrem Hoheitsgebiet zuständig. Die Schweiz überträgt weder Gesetzes- noch andere Entscheidungsbefugnisse an eine übergeordnete, supranationale Instanz – ausser beim Luftverkehr.
Tritt ein neuer Staat der EU bei, gelten die bilateralen Verträge auch für das neue Mitglied, denn mit dem Beitritt übernimmt der Staat automatisch das EU-Recht, die internationalen Übereinkommen und die Abkommen mit Drittstaaten. Zwischen der Schweiz und der EU sind keine neuen Verhandlungen nötig. Ausnahme sind die Gemischten Abkommen, deren Vertragsparteien die Schweiz, die EU wie auch die EU-Mitgliedstaaten sind. Dazu gehören das Abkommen über die Personenfreizügigkeit und das Betrugsbekämpfungsabkommen.
Betrugsbekämpfung
Das Betrugsbekämpfungsabkommen von 2004 verbessert die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von Schmuggel sowie anderer Delikte im Bereich der indirekten Steuern (z. B. Zollabgaben, Mehrwert- und Verbrauchssteuern), der Subventionen sowie des öffentlichen Beschaffungswesens. Das Abkommen umfasst sowohl Amts- als auch Rechtshilfe. In diesem Rahmen stehen der Schweiz und den Behörden der EU und deren Mitgliedstaaten die gleichen Instrumente zur Verfügung, die in eigenen Verfahren zum Einsatz kommen („Inländerbehandlung“).
Europol
Das Abkommen von 2004 zwischen der Schweiz und Europol, der Strafverfolgungsbehörde der
Europäischen Union (EU), verbessert die Polizeizusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung
von schwerer und organisierter internationaler Kriminalität sowie Terrorismus. Es erleichtert insbesondere
den sicheren und raschen Austausch von strategischen und operativen Informationen sowie die Zusammenarbeit im Bereich der Analyse. Es ermöglicht der Schweiz und Europol, Expertenwissen auszutauschen, an Ausbildungsaktivitäten teilzunehmen und sich bei konkreten Ermittlungen gegenseitig zu beraten und zu unterstützen. Zur Koordination und Erleichterung dieser Zusammenarbeit betreibt die Schweiz in Den Haag (Niederlande) ein Verbindungsbüro mit zwei Polizeiattachés.
Eurojust
Das Abkommen zwischen der Schweiz und Eurojust, der Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union (EU), baut die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der schweren Kriminalität aus. Die europäische Justizbehörde Eurojust koordiniert die Ermittlungen und Strafverfolgungen der einzelnen Mitgliedstaaten und erleichtert die internationale Rechtshilfe sowie die Erledigung von Auslieferungsersuchen. In der Praxis arbeitet die Schweiz schon seit längerem fallweise mit Eurojust zusammen. Diese Zusammenarbeit wurde 2008 durch das bilaterale Abkommen auf eine rechtliche Grundlage gestellt.
Schengen/Dublin
Das Schengen-Assoziierungsabkommen erleichtert einerseits den Reiseverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) durch die Aufhebung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen, andererseits verbessert es die internationale Justiz- und Polizeizusammenarbeit im Kampf gegen Kriminalität. Das Dubliner Assoziierungsabkommen stellt sicher, dass ein Asylgesuch nur von einem Staat im Dublin-Raum geprüft wird, wobei die Dublin-Kriterien die nationale Zuständigkeit festlegen.
Die EU strebt mit der Schweiz ein institutionelles Rahmenabkommen an, das die Bilateralen auf festere Füsse stellen soll.
Das institutionellen Rahmenabkommens kann in vier grosse Elemente unterteilt werden:
- Festlegung des Prozess für die Übernahmen der bilateralen Verträge und die Weiterentwicklung des damit zusammenhängenden Rechts (Weiterentwicklung des Rechts),
- die homogene Anwendung der bilateralen Verträge (Einhaltung der Verträge),
- die übereinstimmende Interpretation der bilateralen Verträge und schlussendlich,
- die Art und Verantwortlichkeit der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU, falls es zu Unstimmigkeiten bei einem der drei vorher genannten Punkte kommt.
Institutionelles Abkommen Schweiz–EU: Das Wichtigste in Kürze
Interessenlage
Das Ziel des Bundesrats ist ein weitgehender Zugang zum EU-Binnenmarkt sowie Kooperationen mit der EU in ausgewählten Bereichen bei grösstmöglicher politischer Eigenständigkeit. Der bilaterale Weg hat sich als europapolitischer Ansatz bewährt, welcher diesen Interessen der Schweiz am besten gerecht wird. Mit einem institutionellen Abkommen (InstA) will der Bundesrat den bilateralen Weg bzw. den EU-Binnenmarktzugang konsolidieren, zukunftsfähig machen und dessen Weiterentwicklung ermöglichen.
Mit dem InstA wird das Prinzip der dynamischen Aktualisierung der bilateralen Marktzugangsabkommen sowie ein Streitschlichtungsmechanismus eingeführt, durch welchen beide Parteien ihre Rechtsansprüche geltend machen können. Dadurch schafft das InstA Rechts- und Planungssicherheit für Schweizer Unternehmen sowie für Bürgerinnen und Bürger, garantiert deren EU-Marktzugang und schützt vor Diskriminierung gegenüber der EU-Konkurrenz. Zudem öffnet es den Weg für den Abschluss neuer Marktzugangsabkommen, insofern die EU nicht bereit ist, ohne Regelung der institutionellen Fragen mit der Schweiz neue Marktzugangsabkommen abzuschliessen. Das InstA bezieht sich ausschliesslich auf die fünf bestehenden bilateralen Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse/MRA und Landwirtschaft) sowie auf zukünftige Marktzugangsabkommen (bspw. im Bereich Strom).
Die Verhandlungen über ein InstA basierten auf dem Mandat des Bundesrats vom 18.12.2013, welches mit den aussenpolitischen Kommissionen und den Kantonen konsultiert worden ist. Das Mandat wurde am 2.3.2018 präzisiert. Am 7. Dezember 2018 hat der Bundesrat den Abschluss der Verhandlungen sowie den Vertragsentwurf zur Kenntnis genommen. Die EU hat erklärt, dass sie nicht bereit ist, die Verhandlungen fortzusetzen.
Kurzbilanz: Der Anwendungsbereich wurde – wie von der Schweiz gefordert – auf die 5 bestehenden sowie die künftigen Markzugangsabkommen beschränkt. Beim Kernbestand des Abkommens, d.h. bei den institutionellen Mechanismen (Rechtsentwicklung, Überwachung, Rechtsauslegung, Streitbeilegung), wurden die angestrebten Ziele erreicht: Die Schweiz entscheidet bspw. über jede Rechtsentwicklung entsprechend ihren verfassungsmässigen Genehmigungsverfahren inkl. Referendumsmöglichkeit (keine automatische Übernahme). Die Einhaltung der Abkommen in der Schweiz wird durch Schweizer Instanzen überwacht. Und Streitfälle werden von einem Schiedsgericht entschieden, in welchem paritätisch von der Schweiz ernannte Schiedsrichter einsitzen. Die Zuständigkeit des EuGHs ist auf die Auslegung von übernommenem EU-Recht beschränkt. Die bestehenden Ausnahmen der sektoriellen Abkommen in den Bereichen Landverkehr (z.B. Nacht- und Sonntagsfahrverbot, 40 Tonnen-Limite), Landwirtschaft (z.B. Verbot internationaler Tiertransporte auf der Strasse) sowie bei der Koordination der Sozialversicherungen (Nicht-Exportierbarkeit gewisser Leistungen) werden vertraglich bestätigt. Bei den staatlichen Beihilfen beschränken sich die Bestimmungen im InstA auf nicht direkt anwendbare Grundsätze (ausser im Bereich des Luftverkehrs). Für die Überwachung gilt das von der Schweiz geforderte Zwei- Pfeiler-Modell: Jede Partei überwacht je eigenständig auf ihrem Territorium, wobei das schweizerische System demjenigen der EU äquivalent zu gestalten ist. Nicht bzw. lediglich teilweise aufgenommen wurden dagegen verschiedene Ausnahmeforderungen der Schweiz im Bereich der Personenfreizügigkeit (Unionsbürgerrichtlinie, flankierende Massnahmen, Koordination der Sozialversicherungen). Die EU anerkennt jedoch die Besonderheiten der Schweiz in Bezug auf die grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringer (bspw. Beschränkung auf 90 Tage) und damit den Bedarf nach weitergehenden Massnahmen zur Garantie des Lohnschutzniveaus. Darum hat sich die EU bereit gezeigt, spezifische flankierende Massnahmen vertraglich abzusichern.
Der Bundesrat hat das EDA am 7.12.2018 beauftragt, die betroffenen Kreise zum Verhandlungsresultat zu konsultieren. Auf dieser Grundlage soll eine fundierte interessenpolitische Analyse im Hinblick auf eine allfällige Unterzeichnung des Abkommens durchgeführt werden.
Eine konsequente interessenpolitische Abwägung muss ebenfalls folgende Punkte berücksichtigen:
- Eine Sistierung bzw. ein Aufschieben der Verhandlungen sind für die EU keine Option. Institutionelle Verhandlungen in der Zukunft sind zwar nicht ausgeschlossen, bedürften aber für die EU eines neuen Mandates und wären kaum vor Mitte 2020 möglich. D.h. es besteht keine Garantie, dass die EU bei künftigen Verhandlungen bereit sein wird, auf das im vorliegenden Vertragsentwurf Erreichte aufzubauen.
- Die Beendung des aktuellen Verhandlungsprozesses hätte negative Konsequenzen. Diese umfassen den Abbruch der Verhandlungen in sektoriellen Dossiers wie Strom, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (welche die EU mit den institutionellen Fragen verknüpft) sowie die Nicht-Anerkennung der Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung gemäss MIFIR23. Zu erwarten sind ebenfalls Rechtsunsicherheiten bei der regelmässigen Aktualisierung bestehender Marktzugangsabkommen (bspw. beim Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse), was zu einer Erosion des bestehenden Marktzugangs führen würde. Zudem besteht das Risiko, dass kein Abkommen über die Teilnahme der Schweiz am nächsten EU- Forschungsrahmenprogramm ab 2021 abgeschlossen werden kann. Ebenfalls könnten die Verhandlungen über folgende Bereiche beeinträchtigt werden: Kabotage-Rechte im Luftverkehr, Beteiligung der Schweiz am ERA (EU Agency for Railways), Beteiligung am öffentlich regulierten Dienst (PRS) sowie an der Agentur des Global Satellite Navigation System (GSA, Galileo) sowie MEDIA/Kultur.
Folgend die wichtigsten Bestimmungen des Abkommens:
Anwendungsbereich (Artikel 2)
Dem institutionellen Abkommen würden die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse/MRA und Landwirtschaft) sowie künftige Marktzugangsabkommen (z. B. das derzeit in Verhandlung befindliche Stromabkommen) unterstehen.
Wirtschaftliche Bedeutung: Auf der Grundlage der bilateralen Verträge Schweiz-EU findet ein Warenaustausch im Umfang von täglich einer Milliarde CHF statt. Jeden dritten Franken verdient die Schweiz im Rahmen ihrer Beziehungen zur EU. Z.B. dank dem Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA): Dieses regelt den Abbau technischer Handelshemmnisse. In den 20 Produktbereichen des MRA kam es 2016 zu Exporten in die EU im Umfang von über 74 Mrd. CHF – das sind 69% der Schweizer Industrieexporte in die EU. Allein die Chemie- und Pharmaindustrie kann dank des Abkommens jährlich ca. 150–300 Mio. CHF an Kosten einsparen. Die nächste MRA-Aktualisierung betrifft die Medizinprodukte. Diese Branche umfasst in der Schweiz rund 14’000 Unternehmen mit über 58’000 Arbeitsplätzen. Der Anteil am BIP beträgt 2,3%, am Exportvolumen 4%.
Das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen und das Freihandelsabkommen (FHA) von 1972 fallen nicht unter das institutionelle Abkommen. Beide Parteien zeigen sich aber in einer politischen Absichtserklärung bereit, Verhandlungen über die Modernisierung dieser beiden Abkommen aufzunehmen. Diese Absichtserklärung ist rechtlich nicht verbindlich und inhaltlich ergebnisoffen. Eine Unterstellung eines künftigen, modernisierten FHA unter das InstA wird damit nicht präjudiziert. Sie würde nur dann erfolgen, wenn das FHA durch die Modernisierung zu einem Marktzugangsabkommen (basierend auf einer Harmonisierung mit EU-Recht) würde. Insofern das heutige FHA keinen Streitbeilegungsmechanismus hat, kann ab Inkrafttreten des InstA und bis Inkraftsetzung eines modernisierten FHA der Streitbeilegungsmechanismus des InstA im Bereich des FHA bereits genutzt werden (z.B. bei Fragen betreffend staatliche Beihilfen oder im Fall wirtschaftlicher Schutzmassnahmen). Voraussetzung ist, dass beide Parteien im konkreten Fall damit einverstanden sind.
Institutionelle Mechanismen (Artikel 1)
Die institutionellen Mechanismen Rechtsentwicklung, Überwachung, Auslegung und Streitbeilegung stellen den eigentlichen Kernbestand des Abkommens dar:
Rechtsentwicklung (Artikel 5 in Verbindung mit Artikeln 12-14): Damit der Marktzugang der Schweiz langfristig gesichert ist, müssen die Marktzugangsabkommen Schweiz-EU regelmässig an die relevanten Entwicklungen des EU-Rechts angepasst werden. Geschieht dies nicht, entstehen Rechtsabweichungen und damit Handelshürden, die den Marktzugang für Schweizer Akteure erschweren und diese benachteiligen. Laut Entwurf des institutionellen Abkommens verpflichten sich die Schweiz und die EU, relevante EU-Rechtsentwicklungen in die Abkommen zu übernehmen. Die Schweiz kann aber über jede Anpassung einzeln und in Übereinstimmung mit den verfassungsmässigen Entscheidverfahren beschliessen – das Referendumsrecht wird vollumfänglich gewahrt. Eine automatische Rechtsübernahme ist ausgeschlossen. Die Schweiz wird bei der Erarbeitung der relevanten Rechtsentwicklungen in der EU systematisch konsultiert und kann so ihre Anliegen frühzeitig einbringen (decision shaping). Ist die Schweiz nicht bereit, eine Weiterentwicklung zu übernehmen, kann die EU das Streitbeilegungsverfahren einleiten (siehe Streitbeilegung).
Rechtsauslegung (Artikel 4): Die Schweiz und die EU legen die bilateralen Abkommen eigenständig und möglichst einheitlich nach völkerrechtlichen Grundsätzen aus. In die Abkommen übernommenes EU-Recht wird in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ausgelegt.
Überwachung (Artikeln 6 und 7): Die Schweiz und die EU sind je selbstständig für die korrekte Anwendung der Abkommen auf ihrem eigenen Territorium verantwortlich (Zwei-Pfeiler-Modell). Allfällige Probleme werden in den für die Verwaltung der Abkommen zuständigen Gemischten Ausschüssen diskutiert.
Streitbeilegung (Artikel 10 und Protokoll 3): Jede Partei kann den betroffenen Gemischten Ausschuss mit einer Streitigkeit befassen. Findet dieser innerhalb von drei Monaten keine Lösung, kann jede Partei die Einsetzung eines paritätischen Schiedsgerichts verlangen. Dieses besteht aus je der gleichen Zahl von Schiedsrichtern, die von der Schweiz bzw. von der EU ernannt werden. Wirft die Streitigkeit eine Frage der Auslegung oder Anwendung von EU-Recht auf, deren Klärung für die Beilegung der Streitigkeit notwendig ist, befasst das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof EuGH. Das Schiedsgericht legt den Streit gestützt auf die Auslegung des EuGHs bei. Die Parteien sind an den Schiedsspruch gebunden. Entscheidet eine Partei jedoch, das Urteil nicht umzusetzten, oder stehen die getroffenen Umsetzungsmassnahmen nach Ansicht der anderen Partei nicht in Einklang mit dem Schiedsspruch, kann die andere Partei Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen aber verhältnismässig sein. Bestehen diesbezüglich unterschiedliche Meinungen, kann die von den Ausgleichsmassnahmen betroffene Partei die Verhältnismässigkeit ebenfalls einem Schiedsgericht zur Beurteilung unterbreiten. Solche Streitbeilegungsverfahren dürften mehrere Jahre dauern (siehe Schema des Streitbeilegungsverfahrens im Anhang II).
Gemäss Abkommen ist ein horizontaler Gemischter Ausschuss (bestehend aus Vertretern der Vertragsparteien) für das gute Funktionieren des InstA zuständig (Artikel 15). Ebenfalls wird durch das InstA ein gemischter parlamentarischer Ausschuss geschaffen. Dieser setzt sich aus einer gleichen Zahl von Mitgliedern des EU-Parlaments sowie der Schweizer Bundesversammlung zusammen und kann sich in Form von Berichten und Resolutionen äussern (Artikel 16).
Ausnahmen (Protokoll 2)
Im Abkommen werden für die Schweiz eine Reihe von expliziten Ausnahmen vom Prinzip der dynamischen Rechtsentwicklung vorgesehen. Diese bestätigen die bestehenden Sonderregelungen in den Bereichen Landverkehr (bspw. Nacht- und Sonntagsfahrverbot, 40-Tonnen-Limite), Landwirtschaft (bspw. Verbot von internationalen Tiertransporten auf der Strasse) sowie Koordination der Sozialversicherungen (bspw. Nicht-Exportierbarkeit gewisser Sozialversicherungsleistungen). Zusätzlich hat die EU Ausnahmen in Bezug auf die flankierenden Massnahmen angeboten (siehe Kapitel 6).
Staatliche Beihilfen (Artikel 8A, B, C, Annex X)
Als wichtiges Element zur Gewährleistung gleicher Bedingungen für alle Akteure («level playing field») haben sich die Schweiz und die EU auf gewisse Grundsätze der staatlichen Beihilfen geeinigt. Diese wären ausschliesslich auf das bestehende Luftverkehrsabkommen sowie auf künftig abzuschliessende Marktzugangsabkommen anwendbar (z. B. auf ein Stromabkommen).
- Die inhaltlichen Bestimmungen zu den staatlichen Beihilfen im InstA werden, mit Ausnahme des Bereichs des Luftverkehrs, auf nicht direkt anwendbare Grundsätze beschränkt, welche den Rahmen für die konkrete Beihilferegelung in den sektoriellen Abkommen setzen. Ohne Übernahme in das jeweilige sektorielle Abkommen sind diese Prinzipien nicht justiziabel. Im Luftverkehrsabkommen besteht bereits eine Regelung der staatlichen Beihilfe, welche mit den allgemeinen Bestimmungen des InstA konform ist. In Bezug auf künftige Marktzugangsabkommen müssen die verbindlichen materiellen Bestimmungen im Rahmen dieser sektoriellen Abkommen ausgehandelt werden.
- Im Bereich der Überwachung soll jede Vertragspartei die staatlichen Beihilfen in ihrem Hoheitsgebiet durch je eigene Überwachungsbehörden in äquivalenter, aber eigenständiger Weise überwachen (Zwei-Pfeiler-Modell). Im InstA werden dafür bestimmte Modalitäten festgelegt, wobei das schweizerische System demjenigen der EU äquivalent sein muss. Die Überwachungsbehörde kann bspw. die Rückforderung unrechtmässig gewährter Beihilfen erwirken. Geplante Beihilfen müssen, wenn sie einen Mindestbetrag überschreiten, vorgängig der Überwachungsbehörde unterbreitet werden. Bei der Umsetzung der Überwachung wird die Schweiz die verfassungsmässigen Prinzipien der Gewaltenteilung bzw. des Föderalismus berücksichtigen. In Bezug auf das Luftverkehrsabkommen besteht mit der Wettbewerbskommission (WEKO) bereits eine Überwachungsbehörde, deren Aufgaben im Lichte des InstA überprüft werden müssen.
Personenfreizügigkeit
Das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) untersteht als Marktzugangsabkommen dem institutionellen Abkommen und somit der dynamischen Aktualisierung (vgl. Rechtsentwicklung). Der Bundesrat forderte aber in drei Bereichen Ausnahmen von der Rechtsübernahme («rote Linien»): bei den flankierenden Massnahmen, der Unionsbürgerrichtlinie (2004/38) sowie der Revision der Verordnung 883/2004 zur Koordination der Sozialversicherungen. Die EU vertritt dagegen den Standpunkt, dass alle Teilnehmenden am EU-Binnenmarkt den gleichen Bedingungen unterstehen müssen («level playing field») und generelle Ausnahmen grundsätzlich nicht akzeptabel sind. Wenn es bei der Frage einer Rechtsübernahme Meinungsverschiedenheiten gäbe, könnten diese aus Sicht der EU im Rahmen des dafür vorgesehenen Streitbeilegungsmechanismus des InstA von Fall zu Fall ausgetragen und gelöst werden.
Flankierende Massnahmen (FlaM): Der Bundesrat hat immer betont, dass der Lohnschutz in der Schweiz gewährleistet und das dafür nötige Schweizer Lohnschutzdispositiv der FlaM abgesichert sein muss. Umgekehrt hält die EU bestimmte FlaM für nicht konform mit der im Personenfreizügigkeitsabkommen von 1999 verankerten Dienstleistungsfreiheit und fordert seit über zehn Jahren deren Anpassung. Die Kritik der EU trifft dabei nicht grundsätzlich die jeweiligen Massnahmen als solche, sondern lediglich deren Verhältnismässigkeit. Diese Kritik stand am Ursprung des Bedürfnisses der EU, mit der Schweiz ein institutionelles Abkommen anzustreben. Ein Verhandlungsresultat ohne eine Behandlung dieser Frage war aus diesem Grund auch nicht möglich.
Im Rahmen des vorliegenden Vertragsentwurfs hat die EU folgenden Vorschlag gemacht (Protokoll1): Im Sinne gleicher Bedingungen für alle Marktteilnehmenden («level playing field») soll die Schweiz das relevante EU-Recht im Entsendebereich drei Jahre nach Inkrafttreten des InstA übernehmen. Das betrifft die Durchsetzungsrichtlinie 2014/67 sowie die revidierte Entsenderichtlinie 2018/957, welche das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» etabliert. Während die Übernahme der letzteren kein Problem für die Schweiz darstellen würde, bietet die Durchsetzungsrichtlinie keine Grundlage für bestimmte flankierende Massnahmen der Schweiz. Zur Entschärfung dieses Problems und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Schweizer Arbeitsmarkts hat die EU angeboten, eine Reihe verhältnismässiger Massnahmen zu akzeptieren, die über die im EU-Entsenderecht vorgesehenen Instrumente hinausgehen. Konkret umfasst die EU-Offerte die vertragliche Absicherung folgender Kernmassnahmen:
- die Möglichkeit einer branchenspezifischen Voranmeldefrist von vier Arbeitstagen auf der Basis von Risikoanalysen (heute 8 Kalendertage);
- die Kautionspflicht bei Akteuren, die finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind;
- sowie eine Dokumentationspflicht für Selbstständige.
Unionsbürgerrichtlinie 2004/38 (UBRL): Aus Schweizer Sicht stellt die UBRL keine Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit (im Sinne einer Personenfreizügigkeit der Erwerbstätigen gemäss Personenfreizügigkeitsabkommen) dar. Nach Meinung der Schweiz muss sie diese darum nicht übernehmen. Inhaltlich sind verschiedene Punkte für die Schweiz besonders problematisch: insbesondere ein Ausbau der Sozialhilfeansprüche, die Ausweitung des Ausweisungsschutzes (ordre public-Vorbehalt) sowie das Daueraufenthaltsrecht ab 5 Jahren Aufenthalt. Für die EU dagegen stellt die UBRL eine Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit dar.
Im vorliegenden Vertragsentwurf findet die UBRL keine Erwähnung, d.h. der Schweiz wird im Vertrag keine explizite Ausnahme zugestanden. Anders als im Bereich des Entsenderechts, hat die EU umgekehrt darauf verzichtet, im Vertrag ein explizites Engagement der Schweiz zur Übernahme der UBRL innert einer bestimmten Frist zu verlangen. Im Falle einer Meinungsverschiedenheit in Bezug auf die Frage der Übernahme der UBRL würde der Streitbeilegungsmechanismus des InstA zur Anwendung kommen. Entscheidet das Schiedsgericht nicht im Sinne der Schweiz, müsste über die Modalitäten der Übernahme bzw. einer teilweisen Übernahme verhandelt werden. Würde die Schweiz eine Übernahme dennoch verweigern, könnte die EU Ausgleichsmassnahmen beschliessen, welche aber wiederum verhältnismässig sein müssen. (Siehe Anhang I)
Koordination Sozialversicherungen: Derzeit läuft auf EU-Ebene eine weitere Revision der Verordnung zur Koordination der Sozialversicherungen 883/2004. Ein zentraler Punkt betrifft den Wechsel der Zuständigkeit für Arbeitslosenleistungen an Grenzgänger. Dieser Revisionsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Entsprechend findet darum diese Revision der Verordnung 883/2004 auch keine Erwähnung im InstA: Allfällige Modalitäten einer Übernahme müssten später im Rahmen des Gemischten Ausschusses verhandelt werden.
Ein allfälliger Konflikt betreffend eine künftige Rechtsübernahme der revidierten Verordnung 883/2004 müsste im Rahmen des Streitbeilegungsmechanismus ausgetragen werden. Unabhängig vom Bestehen eines institutionellen Abkommens ist davon auszugehen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten von der Schweiz die Übernahme dieser Rechtsentwicklung fordern werden. Die Schweiz hat der Übernahme von früheren Änderungen der Verordnung 883/2004 ins FZA bisher immer zugestimmt. Beim Vorliegen eines institutionellen Abkommens könnte diese Auseinandersetzung im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens geordnet behandelt werden (siehe oben). Mögliche Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz würden vom neutralen Schiedsgericht auf ihre Verhältnismässigkeit geprüft. Ohne institutionelles Abkommen ist nicht ausgeschlossen, dass die EU Retorsionsmassnahmen ergreifen würde. Ein fester Mechanismus zur Überprüfung dieser Massnahmen wie unter dem InstA bestünde in diesem Fall nicht.
Für die drei genannten Bereiche der Personenfreizügigkeit gilt, dass sich die Frage einer allfälligen Übernahme erst nach dem Inkrafttreten des InstA und im Rahmen der vom InstA vorgesehenen Mechanismen (d.h. kein Übernahmezwang) stellt.
Beiträge zur Verringerung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten
In der Präambel und einer gemeinsamen politischen Erklärung werden die Schweizer Beiträge an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU genannt. Sie werden in den Kontext des EU-Binnenmarktzugangs gestellt und als solidarische sowie autonome Beiträge der Schweiz anerkannt. Die Schweiz zeigt sich zudem bereit, allfällige zukünftige Projekte und Programme mit denjenigen der EU abzustimmen. Dadurch wird keine Verpflichtung zu unbefristeten, regelmässigen Zahlungen geschaffen.
Kündigungsklausel (Artikel 22)
Das InstA tritt sechs Monate nach dessen Kündigung ausser Kraft. Die Konsequenz für die fünf bereits bestehenden, vom InstA abgedeckten Marktzugangsabkommen wäre keine direkte Kündigung. Vertraglich vorgesehen ist ein Konsultationsprozess von drei Monaten, in welchem die Parteien die Auswirkungen auf diese Abkommen und das weitere Vorgehen diskutieren würden. Könnten sich die Parteien auf eine entsprechende Lösung einigen, würden diese Abkommen nicht ausser Kraft gesetzt. Andernfalls treten auch diese – nach Ablauf derer Kündigungsfrist von weiteren 6 Monaten – ausser Kraft. Neue sektorielle Abkommen, die erst nach Abschluss des InstA vereinbart wurden, treten gemeinsam mit den InstA sechs Monate nach dessen Kündigung ausser Kraft.